Die Ausstellung führte das Schaffen zweier Künstler zusammen, die als Ausnahmeerscheinungen innerhalb der gegenwärtigen Kunstproduktion gelten dürfen.
Hana Usui (*1974 in Tokyo) gehört zu den vielversprechendsten japanischen Künstlerinnen ihrer Generation. Nach dem intensiven, bereits im Alter von sechs Jahren begonnenen Studium der Kalligraphie befreit sich die Künstlerin 19 Jahre später aus dieser strengen Tradition, ohne deren Grundlagen völlig aufzugeben. Ihr Loslösungsprozess führt Usui 1999 nach Europa, wo sie in Wien als freie bildende Künstlerin neue Wege des Ausdrucks findet.
Die der Kalligraphie immanente spirituelle Verbindungsebene von Körper, Psyche und Geist bleibt für die Künstlerin auch in ihrer neuen Entwicklungsphase grundlegend und beeinflusst ihr konzentriertes zeichnerisches Werk. In ihrer Bildgestaltung geht Usui jedoch über den rein zeichnerischen Ansatz hinaus und so finden sich in ihrer Arbeit verschiedene Formen des bildnerischen Ausdrucks zusammengeführt: Die Technik, die Hana Usui – prinzipiell auf dem Boden kniend – anwendet, ist eine Art Monotypie, ein Einmal-Flachdruckverfahren. Zuerst trägt die Künstlerin schwarze oder weiße Ölfarbe auf einen glatten Untergrund auf. Darauf legt sie dünnes, asiatisches Papier und zeichnet dann mit verschiedenen Werkzeugen, bspw. Nägeln oder Schraubenziehern, Linien, die die Komposition gliedern. Auf ein zweites Blatt Papier bringt sie eine Tuschelavierung auf, die im Hintergrund die Zeichnung des ersten Blattes hinterfängt.
Die Linie, das primäre Gestaltungselement, wächst scheinbar willkürlich in der Fläche, breitet sich aus, wird wieder gebündelt und nähert sich in manchen Werken wie zufällig einer vegetabilen Assoziierbarkeit an. Doch meist bleiben Usuis abstrakte Zeichnungen offen, geben keine bestimmte Lesbarkeit vor, der Ursprung der Linien bleibt dem Betrachter meist verborgen. Trotz der großen Offenheit der Werke, die Elemente der Malerei ebenso einschließen, wie die der Zeichnung, sind Usuis Kompositionen Ergebnis eines kontrollierten gedanklichen Prozesses, in dem Intuition und Psychomotorik als Gestaltungsimpulse erst nach der Konzentration auf die eigene Atmung und den inneren Rhythmus in den künstlerischen Ausdruck einfließen. Unzweifelhaft spielt das Element der Zeitlichkeit dabei eine zentrale Rolle. Zeitliche Dehnung, Konzentration und psychomotorischer Impuls kulminieren in Kompositionen von erhabener Schönheit und rätselhafter Poesie.
Hana Usui lebt und arbeitet in Wien. Ihre Werke wurden bereits international ausgestellt und befinden sich in zahlreichen Sammlungen, wie etwa der Albertina, dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin und der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
Nach seinem Abschluss als Meisterschüler an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg studiert Thilo Westermann (*1980 Weiden in der Oberpfalz) chinesische Tuschemalerei und „Asian Art Histories“ an der Nanyang Academy of Fine Arts und am Lasalle College of the Arts in Singapur.
Ein wiederkehrendes Thema in Westermanns künstlerischem Schaffen ist die Reflektion über das Verhältnis zwischen dem Künstler und seinem Werk im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung, die längst auch die zeitgenössische Kunstproduktion erreicht hat und die Künstler zunehmend zur Auseinandersetzung mit den Prozessen des selektiven Sehens von Kunstwerken und der Flüchtigkeit bzw. auch Austauschbarkeit vormals „einzigartiger“ Werke zwingt. Der Frage, welche Bilder heute eigentlich noch als Kunst gelten können, nähert sich Westermann auf ganz eigene Weise. In der alten Technik der Hinterglasmalerei schafft der Künstler „Trompe-l’œils“, (dt. Augentäuschungen), bis ins kleinste Detail perfektionierte Idealkompositionen, für deren Herstellungsprozess – wie bei Hana Usui – die Faktoren Konzentration und Zeit eine zentrale Rolle spielen: „In wochenlanger Detailarbeit baut der Künstler seine Bilder aus winzigen schwarzen Punkten vor hellem Hintergrund auf oder kratzt aus geschwärzten Flächen noch feinere Punkte heraus, die er dann weiß hinterlegt. Es entstehen Strukturen ähnlich der Rasterung eines gedruckten Bildes. Das Auge setzt daraus die grauen Zwischentöne der uns vertrauten Schwarz-Weiß-Fotografie zusammen. Aber nicht nur die tatsächlich nur bei sehr genauem Hinsehen erkennbare Punktrasterung, auch das kleine Format der Bilder und ihre reflektierende Oberfläche vermitteln dem Betrachter selbst aus nächster Nähe eine mechanische Bildgenese. Wird dem Betrachter aber dann die malerische Entstehungsweise offenbar, so steht er voll Staunen vor dem manuell geschaffenen Werk. Westermanns Arrangements aus fragilen Blüten und glitzernden Vasen wirken wie hinter Glas eingeschlossene, dreidimensionale Objekte – unerreichbar und überhöht, legen sie den Begriff des Hyperrealismus nahe. Das kleine Format, die schimmernde Oberfläche und die Plastizität des Bildträgers lässt das Bild als kostbares Kleinod erscheinen, als Preziose, die in früherer Zeit sicherlich ihren Weg in eine Wunderkammer gefunden hätte.“ (Martin Thierer in: Thilo Westermann, Vanitas, Nürnberg 2014)
In einem weiteren Schritt lässt der Künstler von der fertigen Hinterglasmalerei einen einzigen „Unikatdruck“ in größerem Maßstab und in hoher Auflösung herstellen. Wie beim Blick durch eine Lupe enthüllt die technische Reproduktion die handwerkliche Qualität der Malerei und betont durch die Offenlegung des künstlerischen Duktus die malerische Genese des Motivs. In der Gegenüberstellung von kleinformatiger Malerei und großformatigem Druck wird das Werk in seiner eigentümlichen Machart jedoch nicht entzaubert. Vielmehr erscheinen beide Werke – Malerei und Unikatdruck – autonom und in ihrer Ergänzung gleichzeitig als Teile eines einzigen künstlerischen Gedankens, der die Möglichkeiten von Original und Reproduktion auslotet. In Analogie zur langwierigen und konzentrierten Herstellung, erfordert die Betrachtung von Westermanns Werken – der kleinformatigen Malereien wie auch der großen Unikatdrucke – ebenfalls sehr viel Zeit. Sehend und denkend ist der Betrachter selbst an der Bedeutungskonstruktion beteiligt.
Die Ausstellung zeigt Werke aus den letzten fünf Jahren sowie neue Arbeiten des Künstlers. – Thilo Westermann lebt und arbeitet in Berlin.
HIGH & SLOW
Der Titel der Ausstellung ist in Anlehnung an die 1990/91 im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) ausgerichtete thematische Ausstellung „High & Low“ gewählt, welche die vielfältigen Beziehungen zwischen Hochkunst und Trivialkultur im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt stellte. Im Kontrast zu jener Schau und entgegen einiger Tendenzen in der aktuellen Kunstproduktion stellt die Kaufbeurer Ausstellung HIGH & SLOW unter der bewussten Ausklammerung jeder Art von Trivialität, Austauschbarkeit oder schneller Konsumierbarkeit Fragen nach der Entstehung wahrhaft einzigartiger künstlerischer Bildideen in den Mittelpunkt. Dabei ist das Ziel weder eine asketische Suche nach „höheren Werten“, noch eine schon fast zur Tradition gewordene, unablässige Kritik an den Mängeln einer gewissenlosen und grausamen kapitalistischen Konsumgesellschaft. Vielmehr gilt der Fokus der Ausstellung der rein schöpferischen Intuition, der Konzentration und hinsichtlich des Schaffensprozesses dem wichtigen Faktor Zeit.
Die Ausstellung befasst sich mit den beiden Künstlern und ihren Werken, nicht mit Begriffen und Kategorien, auch wenn die Begriffe „high“ und „slow“ das zunächst nahelegen. Ferner wird das Schaffen Hana Usuis wie auch Thilo Westermanns nicht als „hohe“ Kunst vorgestellt, um es zu verherrlichen oder zu isolieren, sondern um das Wissen beider Künstler um die „hohe“, feierlich-erhabene Kunst der Vergangenheit zu prononcieren, der die beiden Künstler ebenso verbunden sind, wie dem eigenen Anspruch der Verortung ihres Schaffens in der gegenwärtigen Kunstproduktion. Auch „slow“ soll auf die besondere Verbindung aus Konzept und komplexer Gestaltung verweisen: Erst durch eine extrem entschleunigte Rezeption der Werke Usuis wie auch Westermanns entfalten sich die verschiedenen Bedeutungsebenen langsam vor dem Betrachter und offenbaren einen jeweils einzigartigen Bildkosmos.
Kuratiert von Jan T. Wilms, Direktor Kunsthaus Kaufbeuren 2015–2024.
Zur Ausstellung erschien ein Katalog mit zahlreichen Werkabbildungen und Textbeiträgen von Anne Buschhoff, Kustodin des Kupferstichkabinetts (Zeichnung und Druckgrafik 19.-21. Jahrhundert) an der Kunsthalle Bremen, Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und Jan T. Wilms, Direktor des Kunsthauses Kaufbeuren.
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